Krieg, oder nicht Krieg, das ist die Frage. Frei nach Shakespeare möchte man den Hamlet dazu bringen seinen Monolog neu zu sprechen. Ob es wohl edler sei sich (als Ukrainer) dem Putin´schen Gerassel duldsam entgegenzutreten oder sich bewaffnend (durch die Hilfe des Auslands) gegen die russische Plage im Widerstand zu enden? So ähnlich, nur poetische müsste es wohl geschrieben werden. Wenn es ein Theaterstück wäre. Doch es ist kein Theater, es ist das gerade stattfindende, real passierende Gegenwart, bevor es bald Geschichte sein wird, von der wir heute nicht wissen, wie sie ausgeht.
„Der Westen“ (was immer das ist) steht wohl halbwegs einig einem vermeintlich demokratisch gewählten russischen Präsidenten gegenüber, der die Welt dadurch in Atem hält, dass er Truppen aufmarschieren und Manöver abhalten lässt, die so nah an der Grenze zur Ukraine stattfinden, dass es – einmal in Bewegung – hochgradig mobilen gepanzerten Verbänden der russischen Armee wohl leicht fallen würde aus dem Manöver heraus einen Überfall in das Nachbarland mit schnellem Landgewinn zu kombinieren. Ich will mir das nicht vorstellen. Aber ich kann es. Und ich denke, auch Putin kann es sich – leider nur zu gut – vorstellen.
Rein operativ-taktisch betrachtet ist es eine gerade im Winter nur allzu leicht vorstellbare Option. Das Wetter dürfte eine deutlich weniger wichtige Rolle spielen als in den vergangenen Kriegen auf diesem Boden. Inzwischen dürften vor Ort Wege und Straßen deutlich besser und haltbarer ausgebaut existieren als in der Mitte der vergangenen Jahrhunderts. Kein Rasputitza in Sicht, auch wenn es derzeit deutlich wärmer in der Region ist, als normalerweise um diese Zeit.
Welche strategischen Überlegungen in der Russischen Führung tatsächlich eine Rolle spielen dürfte trotz aller Spekulationen in der Öffentlichkeit dem Grunde nach unbekannt sein. Natürlich ist die seitens Putin hervorgehobenen Einlassung, die NATO würde Russland umzingeln eine aus der Sicht Russlands durchaus nicht ganz von der Hand zu weisen, offenbart aber gleichzeitig das Weiterleben der Denkkategorien des Kalten Krieges. Und natürlich betrachtet sich die NATO als reines Verteidigungsbündnis. Zurückgeblickt auf die Gründung und die Geschichte der NATO und gegenübergestellt, was Putin selbst wohl persönlich und subjektive über diese Geschichte glaubt zu wissen dürften sich jedoch ziemlich verschwommene Zerrbilder zeigen. Putin blickt mit anderen Augen auf die Situation als „Der Westen“.
Immerhin gilt die Kiewer Rus in den Augen vieler als die Quelle Russlands, und das nicht erst seit Putins Ausflug in die Riege der Historiker (oder Hobby-Historiker?). Kiew lag im Mittelalter verkehrstechnisch richtig gut. Der Dnepr als Handelsweg führt direkt zum Schwarzen Meer von wo aus der Großteil der damaligen Welt ebenfalls per Schiff erreichbar war. Deshalb hatte wohl um 900 herum, ich erinnere mich nicht mehr so genau, ein damaliger Herrscher Kiew zur Hauptstadt seines Herrschaftsgebietes auserkoren (er zog wohl von Nowgorod dorthin um). Man kann jetzt spekulieren, ob mein (Halb-)Wissen vielleicht komplett in die Kategorie Phantasie verlegt werden muss, oder ob da wahrhaft etwas dran ist. Worauf man sich einigen können sollte ist die Tatsache, dass viele Russen die Welt vielleicht ganz anders sehen, als wir westeuropäisch geprägten Deutschen. Die Ukraine als selbständiger Staat existiert definitiv erst seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991.
In der Kommunikationstheorie lernen wir, wir sollen offen und empathisch auf unsere Gesprächspartner zugehen. Das würde es uns ermöglichen über die Entfaltung größtmöglicher Empathie die Beziehung zum Gegenüber aus ein beidseitig positives Fundament zu stellen. Dazu muss man nicht gleich jedem Fremden um den Hals fallen, ein bisschen Abwarten und erst mal Gucken und sich „Beschnüffeln“ (um herauszufinden ob man den Gegenüber „gut riechen kann“) geht schon auch. Wichtig ist allen, mit so wenig Vorurteilen wie nur irgend möglich in so ein kennenlernen zu gehen. Das ist die Theorie, die man praktisch stets übern sollte, sofern man eine positive Beziehung aufbauen möchte.
Scheint als wolle Putin das nicht. Er trägt das Vorurteil des sich-eingekesselt-Fühlens vor sich her und rasselt mit dem neuen T-90. Es scheint aber auch nicht, als wollen die verantwortlichen Politiker der Länder des Westens offen und empathisch sein. Gleichzeitig muss man natürlich jeden Land der Welt – und ich betone JEDEM Land – das ihm eigene Selbstbestimmungsrecht zusprechen Bündnisse einzugehen mit wem auch immer es will. Egal seit wann ein Land als selbständig existiert, territoriale Integrität und Unverletzlichkeit von Grenzen gilt universell. Und so verwundert es nicht, dass „der Westen“ kein Verständnis dafür zeigt dass Russland sich bedroht fühlt, wenn Zwerge wie die baltischen Staaten sich Europa und der Nato zuwenden. Auch die Menschen in der ehemaligen DDR haben sich mehrheitlich dem Westen zugewandt, weil die Errungenschaften des real existierenden Sozialismus unter Führung der großen Sowjetunion eben offenbar nicht werthaltiger empfunden wurden als die die D-Mark und die Freiheit zu reisen, wohin man will. Blöd gelaufen für den real existierenden Sozialismus und die ehemalige Sowjetunion. Russland als Teil des ehemaligen sozialistischen Vielvölkerstaats spannt sich über Europa und Asien. Die neuen Länder, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind, liegen im Wesentlichen auf dem Europäischen Kontinent und scheint es ganz natürlich, dass diese Staaten eine Drang verspüren, sich dem „Westen“ anzuschließen. So souverän sie sind, ist das ihr Recht. Das muss man klar benennen.
Und doch, ein Geschmäckle bleibt beim Nachdenken darüber, was den Putin treibt. Sieht er doch auch die teils verheerende Uneinigkeit in der Europäischen Union selbst bei fundamentalen Werten, auf denen diese Institution fußt. Umgang mit Flüchtlingen und Rechtstaatlichkeit sind nur zwei Stichworte. Es herrscht einfach gar keine Einigkeit. Warum sollte Putin dann nicht auch an der Ernsthaftigkeit der westlichen Ansagen und diplomatischen Formulierungen zweifeln? Ein bockiges Kind versucht doch auch ständig die Grenzen auszuloten. Aber ist Putin ein bockiges Kind? Keineswegs! Wenn aber selbst in der größten Demokratie der Welt spätestens seit der Wahl Trumps, und noch deutlicher bei seiner Abwahl, eine tiefe Zerrissenheit der demokratischen Gesellschaft offen zutage tritt, warum nicht seine Chancen durch Ausloten diskursiver Grenzverschiebungen neu bewerten. Die nicht nur diskursive Grenzverschiebung ist auf der Krim im Handstreich gelungen. Ein paar verbale Aufreger musste man über sich ergehen lassen, aber das Ziel, die Krim wieder zu Russland zu zählen ist erreicht. Die Sanktionierungen scheinen verkraftbar, warum nicht weiter gehen und die nächste Grenzverschiebung ausprobieren?
Meinst Du die Russen wollen Krieg? Jewgeni Jewtuschenko veröffentlichte Anfang der 1960er ein Gedicht, das in kurzer Zeit weltbekannt wurde. Siegfried Siemund übersetzte es ins Deutsche, blieb dabei aber im Sprachduktus der Zeit. Es war die Zeit des Kalten Krieges und die Zeit der atomaren Aufrüstung. Gisela Steineckert ersann einen anderen deutschen Text, der nach meinem Geschmack deutlich poetischer daherkommt, ohne die Grundaussage Jewtuschenkos zu verlassen:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Ich frage dich, für welchen Sieg?
Den russischen Soldaten frag,
er liegt dort wo er sterbend lag.
Und was des Volkes Wohlstand wär,
sie geben’s mehr als sechzig Jahre her.
Die Russen brauchen keinen Sieg.
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Ich seh, wenn ich nach Moskau flieg,
die vielen alten Frauen allein,
die wollten Weib und Mütter sein.
Ich denk an Mädchen als Soldat,
und nie vergeß ich Leningrad.
Die Russen brauchen keinen Sieg.
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Frag, wann der Rauch da tödlich stieg!
Millionen Hektar abgebrannt,
den Galgen sieh, wo Soja stand.
Ich kenn den Weg zum Ladoga,
für Kinder steht ein Denkmal da.
Die Russen weinten nach dem Sieg,
meinst du, die Russen wollen Krieg?
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Die Russen haben doch Verstand.
Sie haben einen Krieg gehabt,
viel tiefer, als ihr jemals grabt.
In Stalingrad fiel jede Wand –
für wen schrieb Tanjas Kinderhand?
Für Waffen gibt’s heut keinen Sieg.
Meinst du, die Russen wollen Krieg ?
Die Aussage dieser Zeilen, nach denen nach menschlichem Ermessen von Russen niemals ein Krieg ausgehen könne, eben weil sie einen Krieg hatten, der so viel Leid und Millionen Tote gekostet hat, krallt sich in meinem Kopf fest und weigert sich mit allen Mitteln ihn zu verlassen. Ich hoffe weiter.
Ich hoffe, auch in der kommenden Woche nicht bitter enttäuscht zu werden.